Formwandel: Moderne und Zeitgenössische Kunst
Mit der Verwendung von instabilen Materialien und Materialkombinationen zur Umsetzung künstlerischer Ideen muß für die moderne Kunst die allgemeine Vorstellung eines dauerhaften und unveränderlichen Kunstwerks neu diskutiert werden.
Kunst für die Ewigkeit schaffen. Den Tod besiegen. Angetrieben von dieser ehrgeizigen Zielsetzung suchten Künstler aller Epochen nach immer ausgefeilteren Methoden und Techniken, um dem gewählten Kunstmaterial Dauerhaftigkeit abzuringen. Wahre Meisterschaft offenbarte sich nicht allein durch die Umsetzung einer außergewöhnlichen Bildidee, einer ausgereiften Form- und Farbkomposition, sondern eben auch durch die geschickte Wahl und den bewußten Einsatz von harmonierenden Materialien. Max Doerner, einer der großen Maltechniker des 20. Jahrhunderts, schreibt dazu:
Die Gesetze des Materials gelten für alle Maler, gleichviel welcher Richtung sie angehören. Wer das Material richtig verwenden und ausnützen will, muß diese Gesetze kennen und befolgen, sonst rächen sich früher oder später die begangenen Fehler. Erst die freie Beherrschung des Materials gibt die feste Grundlage, die eine Steigerung persönlichster Ausdrucksweise erlaubt und die Dauer und die Unveränderlichkeit der Bilder gewährleistet ist. Ohne diese Grundlage sind wir Sklaven des Materials oder, wie Böcklin sagte, Abenteurer, gegenüber der festgefügten Tradition der Alten, bei denen einer auf den Schultern des anderen stand.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird in einem Befreiungsschlag mit dieser gewachsenen Tradition gebrochen. Mit der gezielten Sprengung und Auslotung maltechnischer Grenzen wurde die Tür zu einem neuen Universum aufgestoßen, das mit einer Fülle von nie dagewesenen Ausdrucksmöglichkeiten viele Entwicklungen und Kunstströmungen erst möglich machte.
Die klare Einteilung der Bildenden Kunst in Gemälde, Zeichnung, Graphik und Skulptur beginnt mit der Verwendung von Materialkombinationen (siehe Kasten) zu verschwimmen. Nun sind die Übergänge fließend. Im weiteren Verlauf muß auch der Begriff Maltechnik durch die zutreffendere Bezeichnung Kunsttechnik ersetzt werden.
Die freie und technisch uneingeschränkte Materialverwendung ist im Kunstbetrieb mittlerweile als Selbstverständlichkeit und gängige Praxis angekommen und akzeptiert worden. Zeitgenössische Künstler, die noch Maltechnik in klassischer Manier pflegen, rufen meist nur anerkennendes Erstaunen hervor. Mit Zugewinn der erweiterten und gesteigerten Ausdrucksformen hat sich einhergehend mit dem Verlust traditioneller Mal-und Kunsttechniken die Bedeutung einer „Kunst für die Ewigkeit“ grundlegend verändert.
Gemessen wird die Dauerhaftigkeit und Unveränderlichkeit moderner und zeitgenössischer Kunst jedoch nach wie vor an den Wertvorstellungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit dieser offensichtlichen Divergenz werden Erwartungen und Ansprüche an die Kunstwerke gestellt, die das Material bei weitem nicht mehr erfüllen kann. Bei der Genese eines Kunstwerks spielt neben der Intention des Künstlers die Materialwahl und der Entstehungsprozess eine entscheidende Rolle. Die Beständigkeit und Stabilität der Werkstoffe im Einzelnen oder im Verbund entscheiden über die Lesbarkeit und so über das Verständnis des Werks im historischen wie im aktuellen Kontext.
Betrachtet man die Kunstentwicklung im 20. und 21. Jahrhundert unter diesen materialhistorischen Aspekten, zeichnen sich deutliche Tendenzen ab, die sich in vier Hauptgruppen aufschlüsseln lassen (siehe Kasten). Die Intention des Künstlers und der Entstehungsprozeß des Kunstwerks spielt bei der Materialwahl eine entscheidende Rolle. Das Wesen der Kunst ist es, Menschen zu erreichen. Jeder Künstler hofft, daß seine Schöpfung oder zumindest die Idee und Vorstellung seines Werks möglichst lange Bestand haben.
Das gilt auch für Künstler, deren Arbeiten bewußt auf Zerfall angelegt oder als temporäre Installation geplant sind, zum Beispiel Aktionskunst, Happenings und immaterielle Kunstwerke. Die Überdauerung wird hier durch Dokumentation, in welcher Form auch immer, erreicht. Unreflektierte Verwendung alterungskritischer Materialien der Gruppe I zeigt sich zum Beispiel in den Objets trouvées und Materialcollagen der Dada-Bewegung. Alltagsgegenstände als Kunstmaterialien, etwa Latex oder Lebensmittel in Arbeiten der Fluxuskünstler bilden einen Grenzfall zwischen unreflektierter und programmatischer Verwendung der Gruppe I und Gruppe III. Problematisch, jedoch kunsttechnisch höchst interessant sind einige Arbeiten des Gautinger Künstlers Jörg Lang, der hier beispielgebend für die Gruppe III (programmatische Verwendung) genannt werden soll (Abb. oben). Lang hatte 1994 in Negativformen Abgüsse aus gefärbter Gelatine angefertigt.
Die noch feuchten Gelatineabgüsse überzog er vollständig mit Acrylharz. Der Luftabschluß stoppte die bereits vorhandene Schimmelbildung. Während des Trocknungsprozeßes beginnt die Maske ihre Form zu verändern und zu schrumpfen. Ab 1995 ließ sich ein Längenschwund von 1,5 Zentimetern und ein Breitenschwund von 2,5 Zentimetern feststellen. Die steigende Materialspannung führt zur Rißbildungen in der Außenhülle. Mit den Rissen entstehen erneut lokale Trocknungszentren mit weiterem Materialschwund. Die fortschreitende Formveränderung läßt sich nicht aufhalten. Vielmehr geht es darum, sie als Teil der natürlichen Alterung dieses Kunstwerks zu akzeptieren. Lediglich durch das Schließen der auftretenden Risse vermag man diesen Prozeß zu verlangsamen. Markus Lüpertz, als Beispielgeber
der Gruppe II (reflektierte Verwendung) setzt gezielt auch alterungskritische Materialien ein. In einem großformatigen Gemälde aus dem Jahr 2000, das als Prototyp der Serie „In Dürers Garten“ entstand, treten deutlich variierende Materialspannungen auf (Abb. 3 und 4). Der sehr pastose Mittelteil steht relativ plan. Die umliegende, dünn übermalte Leinwand wirft starke Falten. Verwendet wurde eine doppelte Leinwand auf Keilrahmen, Acrylgrundierung, aufgetuckerte Transparentpapiere mit Tuschebemalung, mittig aufgeklebte und decollagierte Papiere mit Bemalung und mehrfach dick aufgetragener Ölfarbe. Mit solchen experimentellen Bildern erprobt Lüpertz die Bildwirkung und das Verhalten unterschiedlicher Materialien und Techniken zueinander. Markus Lüpertz hat die „Sklavenschaft zum Material“ überwunden. Er sprengte bewußt die Fesseln festgefahrener technischer Diktate, entwickelte eine individuelle Kunsttechnik und erreichte eine unübertroffene Präsenz und Materialhaftigkeit seiner Werke. Zum Thema Maltechnik / Kunsttechnik äußerte sich Markus Lüpertz in einem Interview im Jahr 2000:
Ich hab also alle Sachen, die man so lernen muß über Maltechnik gelernt; hab’ mich immer für diese Sachen interessiert, bis hin zu Max Doerner der eine Zeitlang meine Bibel war. Nachdem ich das alles weiß, hab’ ich festgestellt, daß das unter Umständen eine irre Bereicherung aber auch eine große Klammer sein kann. Und zwischen diesen beiden Dingen, also der Klammer und der Befreiung und auch der Erweiterung, pendle ich und versuche manchmal der Sache gerecht zu werden, um sie aber auch dann wieder in anderen Anlässen, zu anderen Bildern zu anderen Stimmungen zu zerstören. Also Technik ist ein Spiel [. . .] was ich kann, bis zur Destruktion.
Die Verschmelzung von ungebändigter Kraft und Fragilität kann sich nur durch das von ihm gewählte Material und die entsprechende Arbeitsweise manifestieren. Mit dem Wissen um die Empfindlichkeit fordert der Künstler im 20. und 21. Jahrhundert schon während der Genese seines Kunstwerks eine intensive Auseinandersetzung mit Material und Technik vom späteren Eigentümer ein. Kunstpflege und Restaurator werden damit zum einkalkulierten Faktor, zum integrierten Bestandteil kunsttechnischer Überlegungen. „Maltechnik / Kunsttechnik“ ist demnach kein Prozeß mehr, der damit endet, daß der Künstler seinen Pinsel beiseite legt. Sie muß als ein fortdauernder „Zustand“ gesehen werden, durch den, mehr noch als bei der Alten Kunst, eine umfassende und dauerhafte Betreuung notwendig wird.
Martin Pracher, 2005